Die Familie Marwa El Sherbinys mahnt einen mehr als symbolischen „Tag gegen Antimuslimischen Rassismus“ an – Gedenkveranstaltung vor dem Landgericht Dresden am 1.7.2021

Die Familie aus Ägypten hat mich gebeten, aus aktuellem Anlass noch einmal zu bekräftigen, was sie schon in früheren Jahren erklärt hatte. Ich zitiere aus der Erklärung der Familie an den UN-Ausschuss zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung von 2014:

„Wir weigern uns, uns mit der Bestrafung für die Mordtat zufrieden zu geben, während andere, die für die Tragödie mitverantwortlich sind, unberührt bleiben. Wir waren zutiefst verletzt. Wir möchten, dass dies bei keiner muslimischen Frau in Europa noch einmal vorkommt, wir möchten unsere Würde schützen, da wir uns niemals wünschen dass jemals jemand so viel Leid erfahren würde.“

Deshalb wollen wir an dieser Stelle nicht nur an die schreckliche Tat am 1. Juli erinnern, die erste bekannt gewordene rassistische Ermordung einer Kopftuchträgerin; weshalb der 1. Juli zum Tag des Antimuslimischen Rassismus in Deutschland geworden ist. 

Was sind aus der Sicht der Familie und der Betroffenen die wichtigsten Merkmale über die grauenhaften Details hinaus – das buchstäbliche Abschlachten der schwangeren Marwa, der lebensgefährlichen Verletzung des Ehemanns und das Miterleben durch den damals dreijährigen Sohn?

1. Das beginnt bei der Urteilsbegründung, wonach der Verurteilte nicht „aus diffusen Rassismus“ sondern „aus blankem Hass“ gehandelt habe – eine abstruse Differenzierung. Wie ich den Akten entnehmen konnte, wurde der Täter von den Ermittlungsbehörden als verwirrter Einzeltäter behandelt, rassistische Hintergründe kaum überprüft und Verbindungen zu organisierten  Neonazis vollkommen ausgeblendet, obwohl er öffentlich zur Wahl der NPD aufgerufen hatte.

Und nicht nur das: Die bei ihm beschlagnahmte Festplatte seines PCs, auf der sich auch die Korrespondenz mit den Neonazis befand, ging ausgerechnet während der Untersuchung in der Staatsschutzabteilung des LKA in Flammen auf und war nicht mehr rekonstruierbar!

2. Auch das Verhalten der zuständigen Richter des Landgerichts Dresden wirft mehr als nur Fragen auf:

– Obwohl sie bereits Monate vor der Hauptverhandlung ein Schreiben des russlanddeutschen Rassisten erhalten hatten, wonach die Islamistin „kein Lebensrecht“ bei uns habe, hatten sie es sträflich unterlassen, eine Durchsuchung vor Betreten des Gerichtssaales anzuordnen, bei der das Küchenmesser mit der 18 cm langen Klinge festgestellt worden wäre. Sie haben nicht einmal einen Justizwachtmeister zur Verhandlung hinzugezogen, der das Schlimmste hätte verhindern können. Sie sind auch nicht etwa dem Ehemann von Marwa bei dessen Versuch, seine Frau zu schützen, zu Hilfe gekommen, sondern haben sich darauf beschränkt, nach längerer Beobachtung den Alarmknopf zu betätigen.

– Daraufhin ereignete sich der nächste folgenreiche Fehler: Der zufällig im Gerichtsgebäude anwesende, durch den Alarm alarmierte BKA-Beamte, eilte zwar in den Gerichtssaal und versuchte zunächst mit einem Warnschuss die körperliche Auseinandersetzung zu beenden. Als dies nicht half, feuerte er einen gezielten Schuss auf einen der beiden kämpfenden Männer ab – aber nicht etwa auf den blonden Russlanddeutschen, sondern ausgerechnet auf den schwarzhaarigen Ehemann von Marwa, der lebensgefährlich verletzt wurde und ins Koma fiel.

– Es dauerte eine Stunde bis der Rettungswagen kam.

– Die Richter unterließen es, Verwandte und Freunde der Familie, die Arbeitgeber der Apothekerin Marwa und das Max Planck Institut, wo ihr Ehemann an seiner Doktorarbeit arbeitete, ausfindig zu machen und informieren zu lassen, obwohl ihnen dies anhand der Unterlagen aus dem Strafverfahren ohne weiteres möglich gewesen wäre. Nicht einmal das ägyptische Konsulat wurde benachrichtigt. So erfuhr die Familie erst durch Zufall von dieser schrecklichen Mordtat.

Also ist aus der Sicht der Familie keineswegs nur der verurteilte Rassist für diese „mehrdimensionale Tragödie“ verantwortlich, wie sie es gegenüber dem UN-Ausschuss formuliert haben.

3. Wer vielleicht meint, diese sträflichen Fehler seien auf besondere Verhältnisse in Dresden zurückzuführen, der irrt. Bekanntlich erregte die schreckliche Mordtat seinerzeit kein besonderes mediales Echo und auf politischer Ebene wurde die Bundesregierung erst aktiv, als es massive Proteste und Demonstrationen in Ägypten gab, die international Aufsehen erregten.

Auch das dürfen wir nicht vergessen: Den großen Mut, der dazu gehörte, dass Marwa überhaupt wegen der rassistischen Beleidigungen und Bedrohungen als Zeugin und Betroffene das Ermittlungsverfahren und zwei gerichtliche Instanzen durchgestanden hat. Wir wissen heute von Organisationen, die Menschen mit Migrationsgeschichte beraten und vertreten: Etwa die Hälfte von rassistischen Beleidigungen, Nötigung und Bedrohungen sowie tätlichen Angriffen werden von den Betroffenen nicht einmal angezeigt – aus berechtigter Furcht nicht nur vor der Rache der Täter, sondern vor allem der Untätigkeit der Behörden oder gar davor, dass der Spieß umgedreht und sie erste Opfer von Ermittlungsmaßnahmen werden.

Und last but not least: Es wäre noch viel über die weiteren Verfahren zu sagen, aber ich fasse hier zusammen:

Auch die Familie unterstützt selbstverständlich die Forderung, den Platz vor dem Landgericht nach Marwa El Sherbiny zu benennen. Das wäre wenigstens auch ein Zeichen gegen den strukturellen Rassismus. Sie erwarten mehr als ein Gedenken von Dresden und Deutschland!

Wenn die Benennung des Platzes nach Marwa an Sherbiny bisher mit der Begründung abgelehnt wurde, das würde ein „Mahnmal der Schande“, dann sollte es genau ein solches Mahnmal werden!

EBERHARD SCHULTZ Rechtsanwalt 1.7.2021

  • Zum Hintergrund des Verfahrens weitere Informationen in der Falldokumentation des Buches von EBERHARD SCHULTZ »Feindbild Islam und institutioneller Rassismus – Menschenrechtsarbeit in Zeiten Migration und Anti-Terrorismus« (VSA-Verlag Hamburg 2018, Seite 115 ff.)
Ergänzende Hinweise der Eberhard-Schultz-Stiftung für soziale Menschenrechte und Partizipation:  
Wir arbeiten an einer Kritik des letzten Staatenberichts der Bundesregierung an den UN-Ausschuss zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung (CERD), mit wissenschaftlicher Begleitung von Dr. Cengiz Barskanmaz vom Max Planck Institut. Ein Bericht, der demnächst als so genannter NGO-Parallelbericht zusammen mit einer möglichst großen Zahl anderer Nichtregierungsorganisationen und Expert*innen die Sicht der von strukturellem Rassismus Betroffenen darstellen soll.
Weitere Unterstützer*innen sind willkommen! Näheres unter:   www.sozialemenschenrechtsstiftung.org.    

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