Heute wurde Einspruch gegen den Strafbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 06.04.2022 erhoben, mit dem der Journalist Anselm Lenz, Mitherausgeber der Zeitung »Demokratischer Widerstand« wegen angeblicher Verleumdung einer hochgestellten politischen Persönlichkeit nach §§ 186, 188 StGB zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 40 € verurteilt wird – ein Termin zur öffentlichen Hauptverhandlung ist noch nicht absehbar.
Auch die Strafverfahren im Zusammenhang mit den sogenannten Hygiene–Spaziergängen im April 2020 wegen des Vorwurfs Widerstand gegen die Staatsgewalt u.a. werden vor dem Hintergrund einer aktuellen Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und der jüngsten Kritik des UN-Sonderberichterstatters für Folter zum Einsatz von Polizeigewalt bei Berliner Demonstrationen neu aufgerollt werden müssen.
Die Richterin am Amtsgericht Tiergarten hatte eine Vertagung der öffentlichen Hauptverhandlung gegen den Mandaten über die Anklageschrift zu dem Vorwurf der Verleumdung am 06.04.2022 abgelehnt, obwohl für den Angeklagten ein Attest der ihn behandelnden Psychotherapeutin vorlag, mit dem seine vorübergehende Verhandlungsunfähigkeit bescheinigt wurde. In der aufgrund des Einspruchs nunmehr erneut anzuberaumenden öffentlichen Hauptverhandlung wird der Antrag der Verteidigung auf Einstellung des Verfahrens wegen massiver öffentlicher Vorverurteilung ebenso behandelt werden müssen, wie eine Reihe von angekündigten Beweisanträgen. Dabei wird Verteidigung nach einer erfolgreichen Beschwerde gegen die ablehnende Entscheidung der Amtsrichterin aufgrund der Entscheidung des Landgerichts Berlin vom 30.03.2022 wegen der Schwierigkeit der Rechtslage als Pflichtverteidiger tätig sein.
In einer Reihe von Strafverfahren im Zusammenhang mit den sogenannten Hygiene-Demonstrationen (ab 28. März 2020) wegen des Vorwurfs des Widerstands gegen die Staatsgewalt anlässlich von Festnahmen wegen Teilnahme an einer verbotenen Versammlung hatte die Verteidigung vor allem zwei Argumentationslinien verfolgt:
– es habe sich nicht um verbotene Versammlungen gehandelt sondern aufgrund einer Absprache zwischen Herrn Lenz und dem Leiter der Berliner Versammlungsbehörde um das Verteilen von Informationsmaterial »on the fly«;
– die zu Grunde liegenden, seinerzeit geltenden, Versammlungsverbote haben gegen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Grundgesetz und Art. 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen.
Darüber hatte sich die Amtsrichterin mit dem Argument hinweggesetzt, es reiche aus, dass die Polizeibeamten im Rahmen ihrer Zuständigkeit gehandelt hätten, weswegen jeder Widerstand rechtswidrig gewesen sei (sog. formeller Rechtswidrigkeitsbegriff, der aber in Rechtsprechung und Literatur umstritten ist). Zuletzt hat sich die Verteidigung ergänzend auf eine kürzlich veröffentlichte Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Verfahren gegen die Schweiz gestützt, mit der die Schweiz wegen Verstoßes gegen die EMRK verurteilt wurde, weil sie bei Versammlungen das seinerzeit gültige absolute Versammlungsverbot angewandt hatte (ECHR 087/2022 CGas./.Schweiz, Pressemitteilung v. 15.3.22).
Berlin, den 27.04.2022 ,
H.- Eberhard Schultz,
Rechtsanwalt
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Zum Sachverhalt und den Hintergründen
In den Medien wurde zwar über den Strafbefehl berichtet(https://www.bz-berlin.de/tatort/menschen-vor-gericht/jens-spahn-verunglimpft-4800-euro-geldstrafe-fuer-corona-regel-gegner; https://www.tonline.de/region/berlin/news/id_100006652/spahn-verunglimpft-gegner-von-corona-politik-verurteilt.html ) – nicht jedoch, wie es dazu kam und worum es in den Verfahren letztlich geht.
Im Verfahren gegen den Journalisten Anselm Lenz wegen Verleumdung hat das Gericht den jetzt in der Hauptverhandlung erlassenen Strafbefehl auf die ursprüngliche Anklageschrift bezogen. Darin wird diesem sowie einem weiteren Herausgeber der Zeitung eine „gegen Personen des politischen Lebens gerichtete üble Nachrede“ vorgeworfen, weil sie den früheren Bundes-Gesundheitsminister Spahn als „… Drogenkonsumenten“ bezeichnet hätten. Die Verteidigung hat demgegenüber für den Angeklagten neben Beweisanträgen zum Drogenkonsum des früheren Ministers insbesondere auf zahlreiche andere Artikel der Zeitung verwiesen, in denen dessen politische Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Corona-Krise scharf kritisiert und teilweise karikiert wurden – ähnlich wie in dem satirischen Beitrag des Kabarettisten M. Richling unter dem Titel „Lauterbach kifft…“, der unbeanstandet im öffentlich-rechtlichen Fernsehen (SWR am 17.12.2021) verbreitet worden ist.
In dem Zusammenhang ist auch die Entscheidung des Landgerichts Berlin vom 30.3.2022 von Bedeutung, mit der der Beschwerde der Verteidigung geben den ablehnenden Beschluss des Amtsgerichts stattgegeben wurde: entgegen der Ansicht der Amtsrichterin liege eine Schwierigkeit der Rechtslage vor, weil »der vorliegende Sachverhalt Bezüge zur grundrechtlich geschützten Meinungs- und Pressefreiheit aufweist, die […] berücksichtigt werden müssen«. Weiter wird zu klären sein, warum die Anklage sich nur gegen zwei der vier Herausgeber richtet, nicht aber gegen einen weiteren, den international renommierten Theoretiker des Ausnahmezustandes, Professor Giorgio Agamben. Das dürfte auch für die Problematik der massiven öffentlichen Vorverurteilung des Angeklagten Journalisten Lenz wichtig sein, der im Zusammenhang mit einem weiteren Verfahren zum Gegenstand einer – in dieser Form seltenen – Hetze gegen den Betroffenen geführt hat, nicht nur in den sozialen Medien sondern bis hinein in bekannte Massenmedien und weit über Berlin hinaus, in denen er als »Corona-Leugner«, „Querdenker“ und »Verschwörungstheoretiker« (nach offizieller Lesart zumindest geistige Verbrechen) bezeichnet und in den sozialen Medien darüber hinaus als »Neonazi« und »Antisemit« an den Pranger gestellt wurde.
Schließlich wird in dem Zusammenhang die erneute scharfe Kritik des UN-Sonderberichterstatters für Folter und erniedrigende Behandlung, Nils Melzer, an der massiven Gewalt der Sicherheitskräfte bei Polizeieinsätzen auf Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen (https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/un-experte-sieht-systemversagen-bei-polizeigewalt-in-deutschland-17971633.html) zu berücksichtigen sein. Nach dem Artikel der FAZ hat der bisherige UN-Sonderberichterstatter „schwere Kritik an den deutschen Sicherheitsbehörden geübt … in Deutschland gibt es nach Auffassung eines UN-Menschenrechtsexperten ‚Systemversagen‘ … Melzer war im Sommer 2021 wegen mehrerer Videos, die offenbar Polizeigewalt bei Berliner Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen zeigten, aufgeschreckt worden. Er äußerte Sorge darüber und bat die Bundesregierung um eine Stellungnahme … nach Auffassung der Bundesregierung sei es verhältnismäßig gewesen, dass Polizisten beispielsweise einen nicht agressiven Demonstranen vom Fahrrad stießen und auf den Boden warfen. ‚Die Wahrnehmung der Behörden, was verhältnismäßig ist, ist verzerrt‘, sagte Melzer. … ‚Die Behörden sehen gar nicht, wie blind sie sind … während Demonstranten teils in Schnellverfahren abgeurteilt würden, würden Verfahren gegen Polizisten eingestellt oder verschleppt, ‚bis niemand mehr hinschaut‘. Sein Fazit: ‚Die Überwachung der Polizei funktioniert in Deutschland nicht.‘“