Die Anschläge von Norwegen

Nachlese zu den Anschlägen von Norwegen:

Die Massenmedien entdecken Islamophobie und antiislamischen Rassismus; diese gesellschaftlich zu ächten heißt: – die Hetze im Stile von Broder und Sarrazin gehört auf die Anklagebank; der Weltordnungskrieg des Westens „gegen den internationalen Terrorismus« beendet, der Sicherheitsstaat des überkommenen Antiterrorismus schonungslos abgerüstet .

Der Schock saß tief, als am 22. Juni Breaking News mit Bildern vom zerbombten Regierungsviertel in Oslo und den grausamen Massakern an Jugendlichen in dem Ferienlager der norwegischen Jungsozialisten um den Erdball gejagten. Der erste Reflex bestätigte denn auch den seit Jahren herbeigeredeten drohenden terroristischen Anschlag in einer europäischen Metropole. Die Experten in den Massenmedien wussten schon nach den ersten Nachrichten: der »böse Moslem« war’s! Selbst noch, als die Polizei gemeldet hatte, der Verdächtige sei Norweger bestanden selbst ernannte »Terrorismusexperten« darauf; schließlich gebe es auch in Norwegen Hass Prediger, die dort vor Gericht stünden, schließlich sei Norwegen in Afghanistan und Libyen militärisch beteiligt – wenig später folgte der zweite Schock: der Festgenommene wurde von der Polizei nicht nur als blond und hoch gewachsen, sondern auch als »christlicher Fundamentalist« beschrieben, inzwischen wissen wir, dass er Sohn »aus bestem Hause« ist (sein Vater Diplomat).

I

Zumindest für einige Journalisten war dies offenbar ein heilsamer Schock

  • während das ZDF ausgerechnet in dieser Nacht im »Kulturmagazin aspekte« einen inszenierten »Spaziergang« Thilo Sarrazins durch Kreuzberg mit einem Kamerateam sendete, auf dem er erwartungsgemäß heftig kritisiert und beschimpft wurde, so dass er sein offenbar einstudiertes: »Sie sind ein widerlicher Islamist!« loswerden konnte. – nachdem der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates diese Inszenierung eines vorhersehbaren Skandals als »beschämend« bezeichnet hatte, ließ es sich der »islamkritische« Schriftsteller Henryk . M. Broder nicht nehmen, diese Kritik als »unsägliche Stellungnahme« zu bezeichnen, mit der man sich auf die Seite des Kreuzberger »Pöbels« stelle und die »Einrichtung von No-go- Areas« fördere.

Andere machten sich an das 1500 Seiten starke Internet-Pamphlet des mutmaßlichen Attentäters B. und analysierten dieses sowie die ersten Reaktionen der Massenmedien durchaus kritisch. Sie entdeckten dort di Beschwörung eines Endzeitszenarios mit einer Bedrohung der westlichen Welt durch die »Muslime«. Der Versuch einer Rechtfertigung der ungeheuren Taten entwirft ein gigantisches Bedrohungsszenario mit umfangreichen Zahlen, Statistiken, Tabellen zum Anschein bestechender Objektivität: der Islam sei eine tödliche Gefahr, seit seiner Entstehung im siebten Jahrhundert habe er bereits 300 Millionen Nicht-Muslime getötet; die tödlichen Angriffe gegen Nicht Muslime gingen danach »solange weiter, wie es nicht-muslimische Ziele gibt und solange, wie der Islam existiert«. Schuld daran seien Medienleute,, sowie Political Correctness, Multikulturalismus und Kulturmarxismus« (vergleiche Karsten Knipp, der Freitag Nummer 30 vom 28.7.2011 und Junge Welt vom 28.7.2011); der selbst ernannte Kreuzritter -angebliches Gründungsmitglied der neuen »Tempelritter Europas«- bezieht sich unter anderem mehrfach auf Broder; dieser wird unter anderem mit seiner Aussage zitiert, dass »Junge Freiheit lebende Menschen in Europa lieber verlassen sollten« und »der in Europa dominante Ethos werde perfekt ausgedrückt von einer dünnen blonden Frau … Sie sagte … es sei manchmal besser, den Kampf zu vermeiden als das Risiko einzugehen, getötet zu werden. Auf Nachfrage des »Tagesspiegel« schreibt Bruder: »ich würde es heute wieder genauso sagen«, allerdings meinte er auf Nachfrage von Journalisten, , das einzige was ihm gegenwärtig Sorge bereite, sei, »woher ich Ersatzteile für meinen Morris Traveller aus dem Jahr 1971 bekomme. Sogar in England werden die Teile knapp.« (Tagesspiegel 24.7.2011). Angesichts dieses blanken Zynismus erübrigt sich jeder Kommentar.

Demgegenüber wurde selbst der SPD-Vorsitzende Gabriel mit dem Satz zitiert:

»In einer Gesellschaft, in der Anti-Islamismus und Abgrenzung von anderen wieder hoffähig wird, in der das Bürgertum Herrn Sarrazin applaudiert, da gibt es natürlich auch an den Rändern der Gesellschaft Verrückte, die sich letztlich legitimiert fühlen, härtere Maßnahmen anzuwenden!«

Wenig später allerdings hieß es – offenbar nach Protesten bestimmter SPD Kreise – aus der SPD Zentrale, das dpa-Interview »hat es nicht gegeben« (der Tagesspiegel, 31.7.2011).

Kein Wunder also, dass neonazistische und rechtspopulistische Parteien jede Mitverantwortung an den Anschlägen zurückzuweisen, und gleichzeitig zum Teil versuchten, sich selbst als Opfer einer Medienhetze darzustellen.

Und während der norwegische Ministerpräsident kurz nach dem Anschlag verkündete, die Antwort Norwegens sei »mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Humanität«, forderten deutsche Sicherheitspolitiker reflexartig neue Gesetze, mehr Überwachung und mehr Repression. Der Bundesinnenminister, der zu seinem Amtsantritt verkündet hatte, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, forderte erneut die Vorratsdatenspeicherung, »als hätte die etwas helfen können« (Ulla Jelpke in Junge Welt vom 28.7.2011) – offenbar ganz im Sinne der Bundeskanzler den, die ja auf dem Treffen in der Jungenunion verkündet hatte, »Multikulti« sei völlig gescheitert.

Dagegen fanden sich in den seriösen Massenmedien eine ganze Reihe von Beiträgen, die sich kritisch, ja zum Teil selbstkritisch, mit dem geistigen Nährboden des Attentäters auseinandersetzen.

Geistiger Nährboden des kruden Bedrohungsszenario, das der Attentäter entwirft, ist danach der antiislamische Rassismus westliche Islamkritiker vom Schlage eines Henrik M. Broder (mit seinem Buch »Hurra, wir kapitulieren!«) und Thilo Sarrazins (mit seinem Buch »Deutschland schafft sich ab«). Deren journalistische und pseudowissenschaftliche Thesen sind bei allen Unterschieden im Detail Bestandteile dieser neuen Form des Rassismus, die den Islam und die Moslems vollkommen undifferenziert und unhistorisch   dämonisiert und zu verkappten Terroristen abstempelt.

Erstaunliches wurde auch zu den Hintergründen in einigen Medien zu Tage gefördert:

– dass nicht nur der Koran sondern auch die Bibel im Alten und Neuen Testament voller Gewaltpotenziale steckt, von der Rechtfertigung der Ausrottung der Kanaanäer über den Psalm 137 (»Tochter Babylon, Du elende, wohl ihm, der dir vergilt, was Du uns angetan hast. Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Fels zerschmettert!«) Bis zur Offenbarung des Johannes, die sich an den Qualen der Vergeltung berauscht, die »Babylon (=Rom) erleidet. – das Resümee eines renommierten Theologen Professors an der theologischen Fakultät: »der Status der Bibel als Heilige Schrift hat jedoch bisher ernsthafte Gespräche darüber verhindert, ob etwa ein Großteil des »Wortes Gottes« zu ächten sei.« (Berliner Zeitung 28. Juli)

– auch über das »gewalttätige Erbe der Kreuzfahrer« (Gerd Althoff, Professor für mittelalterliche Geschichte, in Berliner Zeitung 1.8.2011), die dem Nachfolger von Papst Urban II, der sie mit dem Rachepsalm 79 nach Jerusalem geschickt hatte (»vor unseren Augen sollen die heilige Rache erfahren für das vergossene Blut deiner Frommen«) Vollzug melden konnten mit den Worten:

»Und wenn du wissen willst, was in Jerusalem nach der Eroberung geschehen ist, dann sollst du wissen, dass die unsrigen im Blute der Sarazenen ritten bis zu den Knien der Pferde«.

Die päpstliche Antwort darauf berief sich auf den »Herrn, der die Hände der Kreuzfahrer im Blute der Feinde Gewalt hat …«. – bleibt anzumerken, dass das moslemische Heer unter Führung des Kurden Saladin, das Jerusalem später zurückeroberte, den christlichen Bewohnern der Stadt zu deren eigener Überraschung freien Abzug gewährte.

Althoff bemängelt, dass die »Verantwortung der Päpste legitimierenden Grundlagen der Gewaltanwendung und ihre Problematik nie herausgearbeitet worden« sei und schreibt:

»…für das Töten im Dienst und im Auftrag der Kirche stellten die Päpste … Belohnungen in Aussicht, die die Aufnahme in den Himmel ermöglichten«

Auch wenn bisher in derartigen Beiträgen noch nicht zu lesen war, dass die zweitausendjährige Geschichte des Christentums eine Blutspur seit Beginn der christlichen Amtskirchen bis zum Nationalsozialismus, den beiden Weltkriegen (in denen die modernen Massenvernichtungswaffen von den jeweiligen Kirchen der Kriegsparteien gesegnet würden und die USA sich sogar in einem »Heiligen Krieg« erwähnte, wie Dominico Losurdo belegt hat, siehe unten) sowie die gesamte Kolonialgeschichte durchzieht, wie dies Karl-Heinz Deschner, in seiner »Kriminalgeschichte des Christentums« herausgearbeitet hatte, so wird doch deutlich: die Geschichte des »Kampfes der Zivilisationen« müsste zwar nicht neu geschrieben, aber zumindest zurechtgerückt und im öffentlichen Bewusstsein korrigiert werden; eine Aufrechnung der Gewalt Potenziale verbietet sich dabei ebenso wie Vergleiche zwischen den Belohnungen , die für derartige Bluttaten in den Paradiesen der beiden Religionen nach Ansicht ihrer fundamentalistischen Verkünder auf die Attentäter warten – und es müssten einige Fakten berücksichtigt werden, die jetzt erfreulicherweise wieder in die Erinnerung gerufen wurden:

  • von mehreren hundert Terroranschlägen in Europa im letzten Jahr werden nur zwei »islamischen Terroristen« zugerechnet, während in Michigan/USA im vergangenen Jahr eine apokalyptische christliche Miliz (sog. Hutaree) vom FBI unterwandert und bei der Planung eines Bombenanschlages verhaftet wurde, die ein größeres Waffenarsenal besaß, als alle seit dem 11. September 2001 verhafteten islamischen Terror verdächtigen zusammengenommen, (vgl. L. Suter, der Freitag 28.7.2011)).

Damit sollen natürlich weder die Religionen noch das Christentum mit Blut und Gewalt gleichgesetzt werden. ist ja gerade das positive, bindende, aktivierende Potenzial einer Religion nicht zu unterschätzen und muss ernst genommen und herausgearbeitet werden; Wallerstein arbeitet in seiner Monographie »die Barbarei der anderen« anhand der historischen Auseinandersetzungen der frühen Kolonialzeit in Lateinamerika beide Strömungen und ihre Nachwirkungen heraus. Jesuitische Priester waren oft auch Beschützer der lokalen Bevölkerung gegenüber den kolonialen Unternehmern und ihrer sklavischen Arbeit. Die Theologie der Befreiung steht für diese Strömung und beruft sich explizit auf christliche Wurzeln.

Zurück zur Nachlese:

der neue Feuilletonchef der FAZ hat wichtige kritische Punkte für die Debatte so zusammengefasst:

»Von wegen geisteskrank – der Mörder von Oslo wusste, was er tat und wollte: Sozialdemokraten töten, Lieblingsziel aller totalitären Weltretter. Wir sind es, die nichts wussten und vergessen haben. Was soll man dieser monströsen Rationalität entgegensetzen? …

Anders Breivik wusste genau, was er tat. Wir sind es, die nichts wussten, die vergessen haben: was politischer Terror von rechts ist, wie so was aussieht, wie die vorgehen. Und wir sind es den Opfern schuldig, zu studieren, was er geschrieben hat, wie er vorgegangen ist, bis ins kleinste Detail. Denn er hat ja nicht in die Menge geballert, einen Kindergarten gesprengt oder den Hauptbahnhof. Nicht mal auf die Polizisten hat er geschossen, zum Schluss…. Breivik verurteilt gleich in den ersten Kapiteln die Idee von der Gleichberechtigung aller Menschen, insbesondere der von Mann und Frau, die Freundschaft unter Rassen, Völkern und Kulturen sowie die offene Gesellschaft – daher sind Sozialdemokraten seine logischen Ziele. Sie sind immer das Gegenteil aller selbstberufenen Weltrettungsritter, aller schneidigen Futuristen und Denker des jeweils neuen Menschen, gelten jeder extremistischen Seite als Verräter.

Das bedeutet nicht, den nächsten Anschlag passiv abzuwarten, es ruft dazu auf, die Debatten nicht kosmisch werden zu lassen. Die Fragen von Immigration und vom Kampf der Kulturen konkret zu halten, faktenbasiert und im Dialog mit den anderen. Rasse, Religion und Kultur nicht als Synonyme zu verwenden, sondern zu differenzieren, über einzelne Schritte und sachliche Fragen zu reden und keine Panik zu machen. Der theoretische Teil von Breiviks Manifest ist von Seiten wie „Politically Incorrect“ inspiriert, auf denen die Beschreibung der fremden Bedrohung kein Maß und keine Grenze kennt, auf denen der Muslim immer auch der Araber und der immer auch der potentielle Dschihadist ist, und wenn nicht, so verstellt er sich bloß.« (Nils Minkmar , Wahn und Sinn, FAZ, 3.8.2011)

Schließlich kam gut zwei Wochen nach den Anschlägen der Altmeister der Friedens-und Konfliktforschung, Johann Galtung, zu Wort, der nach dem Zusammenhang zwischen dem Anschlag auf Oslo und norwegischen Bomben auf Flügeln fragt – damit schließt sich der Kreis von den ersten Spekulationen über Motive und Hintergründe der Anschläge zu der Analyse der weltweiten Hintergründe: Er diagnostiziert zunächst den fortdauernden Schockzustand wegen des unfassbaren Leids in Norwegen, um darin einen Widerspruch zwischen dem Bekenntnis zu Demokratie und offene Gesellschaft im Inneren und dem auftreten nach außen zu konstatieren:

»Festzuhalten ist, dass diese norwegischen Kräfte im Ausland mit einer »Lizenz zum Töten… agieren. In seiner Außenpolitik in Ländern mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung tritt es (Norwegen) das Recht auf Freiheit vor Entwürdigung und Unversehrtheit mit Füßen…uns Norweger hat die Wirkung dieser einzelnen norwegischen Düngemittel bombe zutiefst erschüttert. Gut denkbar, dass es den Libyern, die mit den Folgewirkungen der 501 norwegischen Bomben fertig werden müssen, ähnlich geht. Das norwegische Entsetzen über das Massaker an unseren arglosen Mitbürgern sitzt tief. Gut denkbar, dass es afghanischen Bürgern durch Operation Enduring Freedom nicht anders geht… wenn norwegische Gewaltanwendung von Breivig in Norwegen abzulehnen ist, so ist norwegische Gewaltanwendung in Libyen ebenfalls abzulenen.«  Und er hält die Anschläge vom zweite 20. Juli für einen äußerst brutalen »wake-up-call«, der »nicht nur zu einer stärkeren Überwachung von Düngemitteln und strengren Waffengesetzen führen (sollte), es ist dies die Zeit für ein Mehr an Dialogführung und Konfliktbearbeitung und für die Förderung entsprechender Kompetenzen.« (Johann Galtung, der Feind im Inneren, Berliner Zeitung vom 2.8.2011)

Anders ausgedrückt: die Welt-Ordnungs-Kriege des Westens unter dem Vorwand der »Bekämpfung des internationalen Terrorismus« seit den Anschlägen vom 11. September führen offenbar zwangsläufig auch zu verheerenden gewalttätigen Auswirkungen in den westlichen Metropolen, vermittelt durch den antiislamischen Rassismus, dem inneren zum Aufbau eines autoritären Sicherheitsstaates geführt hat und den Abbau demokratischer Rechte forcierte – zunächst für Migrantinnen und Migranten, dann für Maggi generalisierte Gruppen der Gesellschaft, schließlich für die unterprivilegierten (vergleiche dazu näher Eberhard Schultz, der Sicherheitsstaat in Aktion, www.menschenrechtsanwalt.de).

Verlassen wir kurz den Überblick über die aktuelle Aufarbeitung der Anschläge in Norwegen in den hiesigen Medien, dann wären auch Erkenntnisse aus der neueren soziologischen und philosophisch – historischen Untersuchungen zu berücksichtigen

– dass der antimuslimische Rassismus kein neues Phänomen ist, sondern insoweit dem historischen Antisemitismus vergleichbar (näher dazu Sabine Schiffer und Constantin Wagner, Antisemitismus und Islamphobie – ein Vergleich, der Deiningen, 2009) – sich auf eine seit den mittelalterlichen Kreuzzügen entwickelte Ideologie stützt, die -von den westlichen Ländern immer wieder zur Rechtfertigung, Gräueltaten, Massakern und kolonialen Kriegen bis hin zu genozidalen Aktivitäten benutzt wurde (vergleiche Domenico Losurdo, die Sprache des Imperiums, 2011).

Auch wenn wir die Analyse nicht so weit gehen müssten wie andere schon vor mehreren Jahren: Der bekannte us-amerikanische Soziologe Immanuel Wallerstein widmete bereits 2003 in seinem Buch »The Decline of American Power“ [1] ein Kapitel dem »Islam: Islam, der Westen und die Welt (Seite 100 bis 123). Im Gegensatz zu Samuel Huntington, der den Westen und den Islam als zwei antithetische »Zivilisationen« ansieht, die in einem langdauernden geopolitischen Konflikt stünden, fragt Wallerstein, wie es komme »dass die christliche Welt die islamische als ihren speziellen Daemon ausgegrenzt hat, und zwar nicht nur kürzlich sondern schon immer seit der Entstehung des Islam« (Seite 102). Als einen immer noch wirksamen historischen Faktor sieht er die Fortsetzung einer Art »innerfamiliärer Streit über Erbschaft und Wahrheit«.

Zu Recht sprechen verschiedene Autoren in der aktuellen Debatte von der »Entfesselung eines – (zunächst) verbalen – Bürgerkrieges der Besitzenden gegen die Habenichtse«(vergleiche das Buch des Feuilletonchefs der FAZ, Patrick Bahners, die Panikmacher, 2010 und Arno Widmann, Berliner Zeitung 30./31.7.2011).

es bleibt eine tief verankerte Islamophobie, ein antimuslimisch ausgerichteter Rassismus, der nur schwer zu bekämpfen ist, weil er historisch und sozialpsychologisch tief verwurzelt ist und mit z. T. unbewussten Zuschreibungen funktioniert:

Neben dem völkischen Rassismus der Nazis und Neonazis, die ausdrücklich ihre wahnhafte »Überlegenheit der germanischen Herrenrasse« postulieren, existiert eine wieder neu entstandene Form des Rassismus. Diese schreibt bestimmten Gruppen von Migranten negative Eigenschaften zu, vor allem nach ethnischen und religiösen Merkmalen sowie nach der Hautfarbe. So behauptet Sarrazin allen Ernstes, die Muslime aus den arabischen Ländern und der Türkei seien minderwertig, lebten »von unseren Steuergeldern« und »produzieren nur Kopftuchmädchen«!

Dieses »Feindbild Islam« ist längst wieder in der Mitte der Gesellschaft angekommen, aus der sie kommt (siehe oben): bereits vor Jahren haben etwa 80 % der befragten Deutschen Islam mit »Terror« assoziiert; nach den Anschlägen vom 11.9.2001 diente es als Vorwand für immer neue Gesetzesverschärfungen, Repressionen und eine so genannte Integrationsdebatte, die sich vor allem gegen Migrantinnen und Migranten richtete, die ihrerseits den antimuslimischen Rassismus befeuert.

Mit dem Buch von Sarrazin, einem früheren Berliner Finanzsenator, ehemaligen Bundes Banker und – nach wie vor – SPD Mitglied, sind dessen pseudowissenschaftliche Thesen von muslimischen Migranten aus arabischen Ländern und der Türkei, die genetisch bedingt seien, von Sozialtransfer leben und so zum kulturellen und wirtschaftlichen Untergang Deutschlands bei trügen, wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge insbesondere bei Akademikern hoffähig geworden. Insofern besteht eine erschreckende Parallele zwischen dem historischen Antisemitismus und der gegenwärtigen Islamphobie, die nicht nur der renommierte Antisemitismusforscher Wolfgang Benz festgestellt hat.

Die Ermordung der moslemischen Ägypterin Marwa El Sherbiny vor zwei Jahren, weil sie nach Ansicht des rassistischen Täters in Deutschland »kein Lebensrecht« habe, ( im Gerichtssaal des Landgerichts Dresden), alltägliche rassistische Diskriminierungen von Muslimen und die Serie von sechs Brandanschlägen auf Moscheen in Berlin im letzten Jahr belegen, dass dieser antimuslimische Rassismus bei uns auf fruchtbaren Boden fällt und die Pogromhetze der vergangenen Jahre jederzeit in manifeste Pogrome umschlagen kann.

Dies führt zur Frage, wie es um die eigentlich zur Ächtung und Abwehr derartiger Entwicklungen berufenen Institutionen wie Schule und Universität, Justiz und Massenmedien steht. Johann Galtung beklagt zu Recht das die Gesellschaft üblichen Institutionen nicht bereit oder in der Lage sind derartige Haltungen und Konflikte produktiv aufzuarbeiten. Das will ich aus aktuellem Anlass noch einmal anhand der Ermittlungsbehörden und Justiz verdeutlichen:

Sämtliche Strafanzeigen gegen Tilo Sarrazin führten bisher nicht dazu, dass dieser sich in öffentlicher Gerichtsverhandlung hätte verantworten müssen. Wie Staatsanwaltschaft in Berlin und München haben sämtliche Strafanzeigen, die gegen Sarrazin insbesondere wegen Volksverhetzung eingeleitet worden waren, eingestellt und keine Anklage erhoben, weil dieser mit seinen Äußerungen nicht die Menschenwürde anderer an den Treffen und nicht gehetzt habe. Ausgerechnet in der Woche nach den Anschlägen in Norwegen hat die Generalstaatsanwaltschaft Berlin meine Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft zurückgewiesen.

Die Täter in Dresden und Berlin werden von den Ermittlungsbehörden als »verwirrter Einzeltäter« behandelt, rassistische Hintergründe kaum behandelt und Verbindungen zu organisierten Neonazis und deren Ideologie ausgeblendet. Umgekehrt werden Bürger kriminalisiert

und vor Gericht gestellt, die es wagen gezielte Razzien der Polizei auf öffentlichen Plätzen als »rassistisch« zu bezeichnen; oder – wie die Medienwissenschaftler im Sabine Schiffer wegen Beleidigung der Polizei angeklagt, weil sie die Vermutung geäußert hatte, es könnte rassistische Gründe haben, dass der Bundespolizist, der im Sitzungssaal des Landgerichts Dresden gegen den rassistischen Täter zu Hilfe gerufen worden war, nicht auf diesen, sondern ausgerechnet auf den ägyptischen Ehemann des Opfers geschossen hat, der seine Frau vor den tödlichen Messerstichen retten wollte (vergleiche dazu die Pressemeldung und die Berichte auf der Homepage des Autors)

Zwischenergebnis:

für die kritische Öffentlichkeit müssen die bisherigen Meldungen und Hintergrundberichte den Bankrott des antimuslimisch-rassistisch ausgerichteten Bedrohungsszenarien und der Maßnahmen des überkommenen Antiterrorismus einläuten. Ja, nüchtern und bei Lichte betrachtet müssen sie ausreichen, den Geschichtsklitterungen und der Ideologie von der Überlegenheit nicht nur der »weißen Herrenrasse« sondern auch dem universalen humanistischen Anspruch des »griechisch–christlich-jüdischen Abendlandes« den Todesstoß versetzen. Und sie müssten eigentlich eine sehr selbstkritische Debatte auf allen Ebenen auslösen. Weil aber die Verhältnisse leider nicht so sind, dass das Ideal vom »herrschaftsfreien Diskurs« realisiert wäre, einige vorläufige Schlussfolgerungen und praktische Konsequenzen, die sich eigentlich alle in aufdrängen müssten.

II

Bevor die These vom »geistesgestörten Einzeltäter« wieder die Oberhand in der Debatte über die Attentate zu erringen droht, ist also festzuhalten:

Niemand will den vielerorts herrschenden Rassismus mit den kriminellen Bombenanschlägen und den Massakern in einen Topf werfen. Eine Distanzierung von Gewalt und Terror ist selbstverständlich, allerdings völlig unzureichend.

Es ist daher notwendig, sich zwischen Kritik an und negativen Ansichten über den Islam beziehungsweise Islamismus einerseits und den Äußerungen antimuslimischen Rassismus in jeder Spielart zu unterscheiden und letzteren zu ächten. Dies bedeutet vor allem, sich gründlich politisch und ideologisch mit ihm auseinander zusetzen und ihn als menschen verachtend, undemokratisch und gegen grundlegende Menschenrechte verstoßend zurückzuweisen.

Konkret bedeutet dies:

1. den christlichen Fundamentalismus darzustellen und sich mit ihm ebenfalls gründlich auseinander zusetzen; das »Feindbild Islam« zusammen mit den Feindbild-Mechanismen und –Konstrukten kritisch aufarbeiten; dazu bedarf es einer Dokumentationsstelle für antimuslimischen Rassismus, die unabhängig, kritisch und nach wissenschaftlichen Maßstäben arbeitet.

2. den gleichberechtigten Dialog zwischen den Religionen und religiösen Vereinigungen zu führen und nicht mit angeblichen oder tatsächlichen Integrationsdefizite zu begründen oder zu vermengen;

3. Gesetze und Verwaltungsmaßnahmen zu überprüfen und offensichtliche Diskriminierungen von Moslems zurückzunehmen, insbesondere das so genannte Kopftuchverbot.

4. Die Diskriminierung, Repressionsmaßnahmen und Beobachtung muslimischer Religionsgemeinschaften (früher jede, die mit den »Muslim Brüdern« in Verbindung gebracht wurde, gegenwärtig dem »Salafismus« – einem neuen geheimdienstlichem Konstrukt für eine Richtung des Islam, die Millionen von Anhängern zählt unter dem Vorwand, derartige fundamentalistische Formen des Islam könnten zum  »Terrorismus« führen )durch den Verfassungsschutz und andere Geheimdienste zu beenden;

5. Straftaten mit antimuslimische rassistischen Hintergrund statistisch zu erfassen und auszuwerten;

6. Diskriminierungen durch antimuslimisch, rassistische Handlungsweisen und Äußerungen festzustellen und mit den im Allgemeinen Gleichstellungsgesetz und der europäischen Anti Diskriminierungs Richtlinie vorgesehenen Sanktionen zu belegen;

7. Sobald antimuslimisch rassistische Äußerungen und Verhaltensweisen strafrechtliche Tatbestände (insbesondere Volksverhetzung, § 130, und Beschimpfung von Religion Gemeinschaften, § 166StGB) erfüllen, systematisch strafrechtlich zu verfolgen und wo nötig hierauf spezialisierte Dezernate zu bilden – gegebenenfalls verbunden mit einer Dokumentations Tätigkeit der OSZE;

So werden sich zwar nicht alle Gewalttaten und Anschläge, die religiös-fundamentalistisch »begründet« werden, verhindern lassen, aber es lässt sich – zusammen mit den notwendigen gesellschaftlichen, demokratischen und sozialen Reformen – ein Zusammenleben entwickeln, das perspektivisch auf derartige Feindbilder verzichtet, und ähnliche Anschläge von vornherein verhindert.

Berlin, den 2. August 2011 H.-Eberhard Schultz,


[1] der Niedergang amerikanischer Macht (New York 2003), Übersetzungen vom Autor

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